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15.09.2010

Quelle:Darmstädter Echo

Umdenken: Schrumpfen statt Wachsen

Zukunftsplanung: Was bedeutet der demografische Wandel für die Kommunen? - Vortrag von Bernward Karl Junge

Eine Gemeinde in Mecklenburg-Vorpommern hat ihre kostspielige Wasserleitung aufgegeben und versorgt ihre Bevölkerung nur noch aus dem Tankwagen und mit Wasserflaschen. Eine andere integriert eine Seniorenabteilung in ihre Kindertagesstätte. Das Mittagessen für die Kinder und die alten Menschen wird in derselben Küche zubereitet. Sobald sich der Kinder-Anteil verringert, können die Senioren auch die Kita-Räume nutzen.

Mit solchen Beispielen stimmte Bernward Karl Junge, der im Auftrag des Hessischen Rechnungshofs bei 29 hessischen Kommunen die vergleichende Prüfung »Demografischer Wandel« durchgeführt hat, sein Publikum auf die nahe Zukunft ein. Der Titel seines Vortrags lautete: »Quo Vadis, Kommune?« Der Sozial- und Verwaltungswissenschaftler sprach gestern auf Einladung des Regierungspräsidenten vor Bürgermeistern, Stadträten und Kreisbeigeordneten aus der Region.

»Es gibt keine Chance, den demografischen Wandel aufzuhalten. Aber er ist kein Weltuntergang«, beruhigte er. Weniger Menschen brauchten weniger und könnten weniger bezahlen. Die Kenntnis der Fakten sei die allererste Pflicht.

Bis 2050 nimmt die hessische Bevölkerung um ein Zehntel ab. 38 Prozent der Bevölkerung werden älter als 60 Jahre alt sein - heute sind es 25 Prozent. Die Generation der »Zahler« (19 bis 59 Jahre) reduziert sich von 54 Prozent auf 35 Prozent. In 40 Jahren unterstützt demnach ein Zahler drei Nichtzahler, zur Zeit sind es zwei. Eine schrumpfende Bevölkerung bedeutet dramatisch sinkende Einnahmen.

Junge untersuchte die Bevölkerungsentwicklung von 29 südhessischen Kommunen mit 1000 bis 20 000 Einwohnern. Acht von 29 werden über ein Drittel ihrer Einwohner verlieren. Für jede Gemeinde wurden Einwohnerzahl und Altersverteilung bis ins Jahr 2050 hochgerechnet. Dabei ergaben sich deutliche individuelle Unterschiede. Für das laut Bernward Junge »schrumpfungsorientierte« Seeheim-Jugenheim wird ein Bevölkerungsschwund von 19 Prozent vorausgesagt, in Lautertal sind es 27 Prozent, in Sensbachtal 30 Prozent.

Für Frankfurt oder Darmstadt gelte »relative Stabilität«, allerdings lebten Städte immer vom Zuzug - doch wo solle der auf Dauer herkommen? Entlang der S-Bahn-Linien sei die Zuzugswahrscheinlichkeit am höchsten. Die Speckgürtel rund um die Großstädte könnten ihre Bevölkerungszahl zwar nicht halten, aber durch Zuzug vorübergehend besser kompensieren. Der Referent sprach von »Abrissbedarf« bei Häusern in den weniger gefragten Gemeinden. In Reinheim etwa werden statistisch betrachtet in vierzig Jahren 2042 Wohneinheiten leerstehen. Die Kommunen sollten die von Leerstand bedrohten Häuser erfassen, damit im richtigen Moment ein Immobilienumschlag möglich sei. Statt neue Bauplätze zu schaffen, sollten Baulücken geschlossen und eine Doppelbebauung auf Grundstücken vorgenommen werden.

Wie ein »Stein am Hals« wirke sich die Fixkostenfalle aus, etwa beim Straßenbau - 10 Prozent der Herstellungskosten fallen jährlich für Instandhaltung, Beleuchtung, Reinigung, Grünpflege und Winterdienst an - oder bei den Wasser- und Abwassergebühren. Die Kanäle seien auf Spitzenbelastung ausgerichtet, plus Sicherheitsaufschlag und Wachstumsreserve, doch die Inanspruchnahme pro Kopf sei oft geringer als geplant. Ein schrittweiser Umbau, etwa eine Verringerung der Netzkapazität bei Sanierungsarbeiten, zahle sich langfristig aus. Andernfalls müssten die Bewohner erheblich höhere Gebühren bezahlen.

Überkapazitäten sind eine Last für den kommunalen Haushalt: Das gelte auch für Kinderbetreuungseinrichtungen, die in ein paar Jahren unter Kindermangel leiden werden. Die derzeitigen auf 25 Jahre bindenden Förderrichtlinien verhinderten, dass bei einem Neubau eine Umwidmung - etwa als Einrichtung für Senioren - eingeplant werden könne. Junge wünscht sich, dass ein vernünftiger Schrumpfungsprozess künftig durch Finanzausgleich und Bedarfszuweisungen unterstützt wird. Doch wie gehen Kommunen ganz praktisch mit dem demografischen Wandel um? Der Referent stellte verschiedene Strategien und ihre Vor- und Nachteile vor. Als erstes die Stegreif-Strategie, das Löcherstopfen bei Bedarf. Dabei werde Geld versenkt, das durch vorausschauendes Handeln hätte gespart werden können, kritisierte er. Bei der St. Florian-Strategie geht es darum, durch einen Standort-Wettbewerb die Gewichte regional zum eigenen Vorteil zu verschieben - fatal, wenn man dabei sein Potenzial überschätzt. Mit der Miami-Strategie sollen begüterte Senioren (»Silver Ager«) angelockt werden - aber entspricht ihre Kaufkraft auch den hohen Erwartungen?. Als »grundsätzlich prüfenswert« bezeichnete Junge die Gemeinsam-sind-wir-stark-Strategie, die Gründung von Zweck- und Wirtschaftsverbänden und die Zusammenlegung und Konzentration wichtiger Einrichtungen. Ihr Nachteil: Die Kommunen begeben sich in Abhängigkeiten und verlieren Steuerungsmöglichkeiten.

Im Strategie-Mix jeder Kommune sollte die Schrumpfung vorkommen, empfiehlt Junge, ohne jedoch ihre Risiken und Nebenwirkungen schönzureden. Sie koste Wählerstimmen, löse Angst und Abwehrreflexe aus. Im Kern gehe es aber letztlich um eine Wertedebatte. Welche Zuwanderer wollen wir haben? Was ist gut für Kinder und Familien? Was hinterlassen wir unseren Enkeln an Schulden? Wo bleibt das Heimatgefühl, wenn für Schützenhaus, Dorfgemeinschaftshaus oder Feuerwehrgerätehaus kein Geld mehr da ist?

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