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30.08.2005

Quelle:Frankfurter Rundschau

Mühsamer Start im TGV-Reich

Die Deutsche Bahn will den ICE 3 nach Paris fahren lassen / Nach einem Jahrzehnt nähert sich der Zulassungsmarathon für den Zug in Frankreich einem guten Ende

Im Juni 2007 soll der ICE 3 erstmals von Frankfurt und Stuttgart nach Paris fahren - zwölf Jahre nach den ersten Gesprächen über die Zulassung des deutschen Hochgeschwindigkeitszuges in Frankreich.Für die Testphase des französischen TGV in Deutschland sollen neun Monate genügen.

Lille · 295, 297, 299. Die roten Digitalziffern der Geschwindigkeitsanzeige springen immer schneller um. An den Fenstern fliegt die flache Küstenlandschaft Flanderns vorbei. Plötzlich verliert der Zug stark an Fahrt, im Bistro nebenan klirren Gläser. Durch den Magen geht ein leichtes Ziehen. "Schnellbremsung", sagt Frank Panier. Wenig später steht der ICE 3 "Würzburg" auf den Gleisen kurz vor Calais.
Fast vier Kilometer hat der 400 Meter lange und 460 Tonnen schwere Flitzer bis zum Stillstand gebraucht. "Wir fahren hier nicht Straßenbahn", sagt Panier und grinst. Seit mehr als vier Jahren überwacht der Sachse als Projektleiter der Deutschen Bahn (DB) die ICE-Testfahrten in Frankreich.
Eigentlich sollte die Zulassung rasch abgehakt werden. Schließlich wurde der ICE 3 von Beginn an als internationaler Zug konzipiert; er verkehrt seit sechs Jahren unfallfrei und durfte in der Schweiz schon nach sechs Monate Prüfung fahren. Deutschland und Frankreich hatten sogar schon 1986 Anforderungen für grenzüberschreitenden Schienenverkehr vereinbart. Erst 1995 aber begannen konkrete Gespräche über die ICE-Zulassung, zur Jahrtausendwende startete die praktische Arbeit. Mehr als 100 000 Testkilometer hat der ICE 3 seither in Frankreich absolviert.

Hohe Hürden


Zu den derzeitigen Probefahrten auf der 112 Kilometer langen Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Lille und Calais, wo sonst der Eurostar zwischen Paris und London hin und her rast, hat Hersteller Siemens den ICE im Werk Wildenrath bei Mönchengladbach umgerüstet. Durch den ganzen Zug laufen Kabelstränge. PC-Arbeitsplätze und Messstellen ersetzen Sitzgruppen für Passagiere. Mit am Zug außen angebrachten Kameras, Monitoren und Videorekordern wird sekundengenau jedes auffällige Verhalten erfasst.
In Frankreich, wo das Schnellnetz für den nationalen Flitzer TGV optimiert ist, verursachte gleich ein halbes Dutzend Anpassungsprobleme bei Technikern wie Martin Steuger jahrelanges Kopfzerbrechen. "Der Hauptgrund für die Verzögerungen sind sicher die unterschiedlichen Philosophien im Bahnverkehr", sagt der Siemens-Projektleiter für den ICE-3-Umbau.
Man könnte auch sagen: Frankreichs Staatsbahn SNCF tat lange Zeit alles, um Konkurrenz für ihren Schnellzug TGV auf dem eigenen Markt zu verhindern. Und so arbeitete man lange Zeit eher gegen- als miteinander, wie Beteiligte auch heute noch hinter vorgehaltener Hand einräumen. Besonders für die Deutschen war das wegen der diffizilen technischen Probleme nachteilig, die sich ihnen erst bei den Testfahrten zeigten. Beispiel Schotterflug: Da die Steine in den Gleisen der Nachbarländer weniger verdichtet sind, wurde der ICE-Unterbau bei hohem Tempo beschädigt. Spoiler und Schutz der Unterteile sollen Abhilfe schaffen.
Ebenfalls kritisch: die Wirbelstrombremse. Beim ICE sorgt diese elektromagnetische Technik für sanftes und berührungsloses Abstoppen, indem sie von 150 Stundenkilometer an zugeschaltet wird. Bei Testfahrten in Belgien wurden Abdeckungen von Kästen an Weichen durch die Magnetkraft abgerissen. In Frankreich darf die Bremse nun erst bei Tempo 220 und nur mit halber Kraft eingesetzt werden.
Auch Besonderheiten im Stromnetz der Oberleitungen, die andere Steuerung der Außentüren und das hochkomplizierte Zugsicherungssystem der SNCF beschäftigte die deutschen Experten jahrelang. 28 Millionen Euro kostete bisher der Zulassungsprozess. Hinzu kommen acht Millionen Euro Umbaukosten für jeden der fünf ICE-Züge, die nach Paris fahren sollen.
Nach vier Stunden Testfahrt herrscht an diesem Tag große Zufriedenheit unter den Technikern im Zug. "Es hat alles gut geklappt, wir machen erfreuliche Fortschritte", bilanziert Siemens-Experte Steuger. Im Herbst soll die Probephase abgeschlossen werden. Wenn alles klappt, wird danach Frankreichs Bahnaufsicht beim Verkehrsministerium endlich freie Fahrt für den ICE 3 erteilen.
Was bei den Deutschen fünf Jahre dauerte, will die Grande Nation in nur neun Monaten durchexerzieren. Ende November wird ein neuer, speziell für den Verkehr nach Deutschland, Luxemburg und in die Schweiz konzipierter TGV zu Prüffahrten zunächst in den Raum München kommen. Hersteller Alstom durfte für die zügige Eroberung des Nachbarlandes eigens 30 neue Triebköpfe bauen, Stückpreis wie beim ICE 3 rund 24 Millionen Euro. Die Franzosen erwarten, dass die DB und das Eisenbahnbundesamt schon nächsten Sommer ihrem neuen Superzug grünes Licht geben.

Nachbarland im Vorteil


DB-Chef Hartmut Mehdorn kann beim Blick auf die TGV und das internationale Geschäft der SNCF vor Neid nur erblassen. Sein Kollege Louis Gallois lässt bereits auf mehr als 1200 Kilometer seine Schnellzüge mit Tempo 250 aufwärts rasen. Als Eurostar fährt der TGV in nur drei Stunden von Paris nach London. Als Thalys flitzt er in 90 Minuten nach Brüssel und seit acht Jahren weiter nach Köln. Auch in die Schweiz, nach Holland und Italien gibt es seit vielen Jahren Direktverbindungen.
Für die neue Schnellstrecke "TGV Est" rüstet Frankreich sein Netz bis ins lothringische Beaudrecourt für Tempo 300 und mehr hoch. Von dort geht es - langsamer - auf zwei Ästen Richtung Straßburg und Saarbrücken bis zur Grenze weiter, ebenso ist bisher auf deutscher Seite wegen schwieriger Topographie und knapper Finanzen nur ein Ausbau bis Tempo 200 geplant.
Die bisherige Projektfirma Rhealys, die beide Länder mit Luxemburg und der Schweiz für die neuen Schnellstrecken schon vor fünf Jahren aus der Taufe gehoben haben, soll zum Jahreswechsel in eine Betriebsgesellschaft mit Sitz in Saarbrücken umgebaut werden. Die Deutsche Bahn will 30 Lokführer für das Joint Venture schulen, das ICE- und TGV-Verkehr erstmals unter einem Dach vereint. Thomas Wüpper

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