Eine Kritik am hessischen Vorschlag für ein Beschleunigungsgesetz für Großprojekte / Von Wolfgang Baumann
Der Hessische Ministerpräsident Roland Koch hat für die Hessische Landesregierung am 18. 10. 2005 die Ergebnisse einer Expertengruppe zur weiteren Vereinfachung und Beschleunigung von Großprojekten vorgelegt. Es bestünde eine Notwendigkeit einfacher Verfahrenswege. Ministerpräsident Koch begründete diese Auffassung wie folgt: „Unser Planungsrecht ist über Jahre wild gewuchert und seine stark verzweigten Verästelungen verhindern oder verzögern mittlerweile die dringend erforderliche Landesentwicklung und schwächen die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland gegenüber dem europäischen Ausland … Hier müssen wir dringend neue Maßstäbe setzen, so dass Infrastrukturprojekte von überregionaler und nationaler Bedeutung, die nachweislich die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes stärken und tausende neue Arbeitsplätze schaffen, in vereinfachten Verfahren zügig umgesetzt werden können.“
Koch kritisierte, dass umwelt- und naturschutzrechtliche Regelungen „derzeit mit oberster Priorität bis in kleinste Details durchgeprüft“ würden, während Kriterien wie wirtschaftlichem Fortschritt, Arbeitsplätzen und Wohngebietsentlastungen nicht der erforderliche Stellenwert eingeräumt würde. Nach Auffassung der Hessischen Landesregierung sollen die erarbeiteten Vorschläge der nach ihrem Vorsitzenden, dem ehemaligen Wirtschaftsminister Dieter Posch, benannten Kommission, „die Verfahrensvereinfachung und Beschleunigung nun auf Bundesebene vorantreiben“ (Koch). Die Hessische Landesregierung hat zugleich einen „Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung und Beschleunigung von Zulassungsverfahren für Verkehrsprojekte“ (56 Seiten) vorgelegt, der offensichtlich als Gesetzesvorschlag in den Bundestag eingebracht werden soll.
Eine der wesentlichen Änderungen beträfe die Öffentlichkeitsbeteiligung in Genehmigungs- und Planfeststellungsverfahren: Ob ein Erörterungstermin durchgeführt wird, liegt nach dem Gesetzentwurf der Hessischen Landesregierung künftig im „freien“ Ermessen der Anhörungsbehörde (der geänderte § 73 Abs. 6 S. 1 VwVfG soll lauten: „Nach Ablauf der Einwendungsfrist kann die Anhörungsbehörde Erörterungstermine durchführen.“). Insbesondere bei Großvorhaben wird in der Regel mit der Begründung auf die Durchführung eines Erörterungstermins verzichtet werden, es sei nicht zu erwarten, dass die Erörterung ihre Befriedungsfunktion erfüllen könne. (...) Eine mündliche Erörterung soll im Wesentlichen nur noch mit privaten Einwendern stattfinden, soweit bei diesen erwartet werden könne, dass sie nach der Erörterung auf ihre Einwendung verzichten würden.
Stellungnahme
Die Posch-Kommission hat mit dem „Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung und Beschleunigung von Zulassungsverfahren für Verkehrsprojekte“ (...) einen zentralen Angriff auf wesentliche Beteiligungsrechte der Betroffenen im Verwaltungsverfahren für Großvorhaben gestartet. Dabei sind schon jetzt die Folgen von Verfahrensfehlern im Erörterungstermin durch Heilungsvorschriften auf ein Minimum reduziert. Der Gesetzgeber hat im Übrigen seit dem Erlass des Verwaltungsverfahrensgesetzes 1977 mehrfach Erleichterungen für Investoren und Behörden geregelt. (...)
Das deutsche Genehmigungsrecht für Großprojekte will in den erforderlichen Genehmigungs- bzw. Planfeststellungsverfahren entsprechend den rechtlichen Vorgaben die öffentlichen Interessen wie Umweltschutz oder Wirtschaftsförderung, die privaten wirtschaftlichen Interessen des Trägers des Vorhabens und die insbesondere auf den Schutz von Leben und Gesundheit zielenden Interessen potentiell Betroffener zum Ausgleich bringen. Ein wesentlicher Verfahrensbereich ist die Öffentlichkeitsbeteiligung. Es besteht nicht nur die Möglichkeit, Einwendungen gegen das geplante Vorhaben zu erheben, vielmehr können die Einwender ihr Vorbringen im obligatorischen Erörterungstermin erläutern und zum Gegenstand eines Diskurses mit dem Träger des Vorhabens machen. (...)
– Der Erörterungstermin soll eine umfassende Prüfung der materiellen Genehmigungsvoraussetzungen ermöglichen. Eine Genehmigung, mehr noch eine Planfeststellung ist bei Großprojekten keine Entscheidung, die allein nach wissenschaftlich-technischen Kriterien getroffen werden kann. Oftmals muss die Behörde ihre Entscheidungskriterien weitgehend selbst erarbeiten und dabei unterschiedliche Interessen berücksichtigen. Dies geschieht bisher unter Beteiligung der einschlägigen Fachbehörden sowie aller Betroffenen und Interessierten in einem kontradiktorischen Verfahren im Erörterungstermin (...) (Kopp, DVBl. 1980, 328; Roßnagel, Rdnr. 7 zu § 10 BImSchG in: GK-BImSchG). ...
– Die Beteiligung der potentiell Betroffenen dient einem vorgezogenen Rechtsschutz und verwirklicht präventiv den Schutz von Grundrechten durch Verfahrensteilhabe. Das Genehmigungsverfahren sichert die Rechte potentiell Betroffener, weil sie in den Stand gesetzt werden, ihre schutzwürdigen Belange durch die Erhebung von Einwendungen geltend zu machen und diese mit dem Träger ... zu erörtern. Damit besteht die Gelegenheit, dass die Behörde diesen Einwendungen schon im Genehmigungsverfahren Rechnung trägt. Gleichzeitig soll hierdurch sichergestellt werden, dass der Bürger rechtliches Gehör erhält (Art. 103 GG) sowie in seiner durch Art. 1 GG gewährleisteten Menschenwürde geachtet und nicht zu einem bloßen Verfahrensobjekt degradiert wird (BVerfGE 9, 95; 27. 6).
– Das Genehmigungsverfahren dient auch der bürgerschaftlichen Verfahrensteilhabe im demokratischen Rechtsstaat (vgl. Bohne, Der informale Rechtstaat, 1981, S. 147 f). Durch die Beteiligung der Öffentlichkeit am Genehmigungsverfahren, die jedermann zusteht und nicht daran geknüpft ist, dass die Beteiligten eigene Rechte geltend machen, soll ermöglicht werden, dass Bürger sich für das Allgemeininteresse am Umweltschutz einsetzen und an diesem Maßstab das Verwaltungshandeln öffentlich kontrollieren können (Roßnagel, Rdnr. 6 zu § 10 BImSchG, in: GK-BImschG).
– Das Genehmigungsverfahren hat weiterhin eine Ausgleichsfunktion: Die Beteiligung der Öffentlichkeit schafft ein Gegengewicht gegen die Interessenseinflüsse der Träger des Vorhabens, die bei Großprojekten regelmäßig mit der Genehmigungsbehörde sehr eng zusammen arbeitet. (...)
– Schließlich kommt dem Genehmigungsverfahren auch eine nicht zu unterschätzende Legitimationsfunktion gegenüber den Bürgern zu. Träger des Vorhabens und die Behörde können in einem öffentlichen Genehmigungsverfahren die Bürger über das Vorhaben informieren und ihnen ihre Bemühungen um den Schutz der Umwelt und Grundrechte Dritter darlegen. In einem demokratischen Gemeinwesen wird die Akzeptanz bei den Bürgern in dem Maße erhöht, in dem die potentiell Betroffenen die Möglichkeit hatten, auf die Entscheidung Einfluss zu nehmen (Lange, DBVl. 1975, 136).
Dass Erörterungstermine von den Betroffenen nicht immer zur Darstellung ihrer Einwendungen genutzt werden und in jüngster Zeit zum Teil nur eine geringe Beteiligung zu verzeichnen ist (z. B. Ausbau Flughafen Frankfurt a. M.), liegt daran, dass die Anhörungsbehörden Erörterungstermine oft zu einer „symbolisch-virtuellen Zeremonie“ und letztendlich zu einer „Farce“ gemacht haben (Hoffmann-Riem/Ruppert, Atomrechtliche Erörterungstermine und Öffentlichkeit, 1984, S. 32). (...)
Bisherige Beschleunigungsgesetze
(...) Schon das Bundes-Immissionsschutzgesetz in der ursprünglichen Fassung von 1972 (hatte) Verfahrensbeschleunigung und Investitionserleichterung zum Ziel: „Für die sog. Großemittenten wird das bewährte, umfassende Genehmigungsverfahren beibehalten. Es wird jedoch so umgestaltet, dass es den Bedürfnissen moderner wirtschaftlicher Entwicklung entspricht. Vor allem soll eine Beschleunigung des Verfahrens erreicht werden. Darüber hinaus sollen im Verfahrensrecht die Möglichkeiten geschaffen werden, die dem Bedürfnis nach Investitionsplanungen im industriellen Bereich entgegen kommen.“ (BT-Drucksache 7/179, 127) Zwischenzeitliche Beschleunigungsnovellen wie das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz vom 18. 12. 1999 (BGBl I S. 2174), das Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetz vom 22. 04. 1993 (BGBl I S. 466) und das Planungsvereinfachungsgesetz vom 17. 12. 1993 (BGBl I S. 2123) dienten ausdrücklich der Investitionserleichterung und -beschleunigung und hatten fast ausschließlich den wirtschaftlichen Aufschwung und die Ausweitung des Arbeitsplatzangebots im Auge. Schon damals hatte die Beschleunigungsgesetzgebung eine Verminderung der Beteiligungsrechte zur Folge. Bei Änderungen von Flughäfen und Landeplätzen (mit beschränktem Bauschutzbereich) wurde – gegen den Widerstand des Bundesrats (!) – schon damals die Möglichkeit im Luftverkehrsrecht vorgesehen, dass die Behörde von einer förmlichen Erörterung absehen kann. Da es sich um eine Ausnahmeregelung handelte, wurde von ihr in der Praxis ... nur selten Gebrauch gemacht.
Vorrang für Großprojekte
Mit der Regelung, die Durchführung von Erörterungsterminen gänzlich in das Belieben der Anhörungsbehörde zu stellen, würde die rechtsstaatliche Funktion von Verfahren jetzt entscheidend geschwächt, die Rechte der Bürger an einer Verfahrensbeteiligung würden gemindert, die Richtigkeitsgewähr von Entscheidungen bei Großverfahren trotz größter Gefahrenpotentiale unterlaufen, die Publizität des Verwaltungshandelns weitgehend aufgegeben und der vorgezogene Rechtsschutz auf ein absolutes Mindestmaß verkürzt. Damit würde auch der präventive Schutz der Grundrechte Betroffener auf Leben, Gesundheit und körperliche Unversehrtheit sowie Eigentum durch Verfahrensteilhabe weitestgehend reduziert. Führt man sich vor Augen, dass bei den meisten Großprojekten Rechtsbehelfe vor Gerichten gegen Genehmigungen bzw. Planfeststellungen regelmäßig keine aufschiebende Wirkung haben, wird klar, was die Absicht der Hessischen Landesregierung ist: Der Rechtsschutz der betroffenen Bürgerinnen und Bürger soll faktisch ausgehebelt werden. Die Großprojekte werden nach dem Genehmigungsbescheid sofort in Angriff genommen. Gelingt es nicht, durch eine Eilentscheidung einen Baustopp zu erwirken, kommt der Rechtsschutz in der Hauptsache in jedem Fall zu spät, da bei Großprojekten mit Gerichtsentscheidungen erst nach zwei bis sieben Jahren zu rechnen ist. (...)
Der Gesetzentwurf sieht vor, dass dann, wenn Erörterungstermine durchgeführt werden, die nach Auffassung der Behörde relevanten Einwendungen und Stellungnahmen sowie Gutachten von Behörden und Sachverständigen nur noch selektiv erörtert werden. Es kann auch eine Erörterung mit nur bestimmten Einwendern und Behörden erfolgen, andere können ausgeschlossen sein. In der Praxis könnte dies dazu führen, dass „unliebsame“ Einwender nicht mehr zum Erörterungstermin eingeladen werden. Des Weiteren ist zu erwarten, dass Erörterungstermine praktisch auf mehr oder weniger unverfängliche Themenbereiche beschränkt werden. Damit kann man den Verfahren das „Mäntelchen der Legitimation“ umhängen, das der Vorhabensträger gegenüber der Öffentlichkeit braucht, um die erforderliche Akzeptanz für sein Projekt zu erhalten, auch wenn hierdurch Verwaltungsverfahren zu reinen Legitimierungsverfahren entwertet werden.
Diese Intention wird auch darin sichtbar, dass in Art. 3 des Gesetzentwurfs der Landesregierung die Umweltverträglichkeitsprüfung auf „Großeingriffe“ in Schutzgebiete beschränkt wird (...) Dadurch verliert auch der Artenschutz in wesentlichen Bereichen an Bedeutung (...)
Zusammenfassung
Mit der in der Praxis nahezu durchgängigen Abschaffung von Erörterungsterminen in Planfeststellungsverfahren und Genehmigungsverfahren für Großprojekte wird der sog. vorgezogene Rechtsschutz durch Verfahren, nämlich mittels einer frühzeitigen Bürgerbeteiligung, auf ein absolutes Mindestmaß reduziert und die rechtsstaatliche Funktion von Verfahren entscheidend geschwächt. Das bedeutet, dass der präventive Schutz der Grundrechte Betroffener auf Leben, Gesundheit und körperliche Unversehrtheit sowie Eigentum durch Verfahrensteilhabe weitestgehend entfällt. Gleichzeitig wird die Richtigkeitsgewähr von Entscheidungen bei Großvorhaben mit hohen Kosten, großen Gefahren und schwer auflösbaren Konfliktpotentialen sowie massivsten Eingriffen in die Rechte einer unübersehbaren Vielzahl von Betroffenen unterlaufen. Die Kontrollierbarkeit des Verwaltungshandelns und dessen Publizität wird weitestgehend aufgehoben. Der gerichtliche Rechtsschutz kommt dann oft zu spät, um die Grundrechte der Betroffenen zu schützen. Die Aufgabe zentraler Verfahrensrechte und Schutzprinzipien des deutschen Verwaltungsrechts tangiert verfassungsrechtliche Grundpositionen des Rechtsstaats. Bei den Vorschlägen der Expertenkommission handelt es sich um eine einseitige Berücksichtigung der Investitionsinteressen und behaupteter Arbeitsplatzangebote. Eine Novellierung der vorgeschlagenen Art ist daher unter verfassungsrechtlichen und rechtsstaatlichen Gesichtspunkten bedenklich.