Ob Zwischenstopp oder täglicher Arbeitsplatz, drei Jahre nach der Sanierung ist der Bahnhof im Alltag angekommen
Das Jahr ist noch jung, der Morgen früh und kalt. Zischend öffnet der Zug seine Türen. Auf Gleis sieben quillen Reisende aus den Abteilen auf den Bahnsteig. Hastigen Schrittes gehen sie zur Treppe. Manch einer schlägt Haken und Schlenker, doch letztlich verlangt das Nadelöhr von allen Geduld. Oben auf dem Querbahnsteig angelangt, setzt es sich schließlich durch, das klapp-klapp-klapp der eiligen Schritte auf dem Steinfußboden.
Ein alltäglicher Morgen am Darmstädter Hauptbahnhof. Ganz gleich, ob Schreibtisch oder Hörsaal auf die Reisenden warten: die Muße, den Blick zu heben, haben die Wenigsten. Die originalgetreu restaurierten Stuckarbeiten, die hübschen Farben, sie bleiben unbeachtet. Dabei ist der Darmstädter Hauptbahnhof, von Friedrich Pützer im Jahr 1912 erbaut und zuletzt vor nunmehr drei Jahren renoviert, einen Blick wert. Doch die Reisegewohnheiten und das Tempo haben sich geändert. Kein Gepäckträger schleppt mehr schwere, lederne Koffer zum D-Zug, heute rollen massenweise Rollköfferchen über den Stein.
Ein Stück guter alter Zeiten hat Lieselotte Tilly in ihrem Rollkoffer verstaut. Nach Gießen ist die Ober-Ramstädterin unterwegs, prüft am Abfahrtsplan noch einmal Zeit und Gleis ihrer Verbindung. Ihre Tochter feiert heute den 30. Geburtstag und die Mama backt den Kuchen. Damit es schmeckt wie früher, sind im kleinen Koffer Rezept, Backform und Zutaten. "Der Bahnhof ist ein Schmuckstück für unsere Stadt geworden", sagt Lieselotte Tilly über die sanierte Station. Besonders lobt sie die Aufzüge, "die gab es ja früher nicht. Für Leute mit Gepäck oder mit Kinderwagen ist das ein Riesen Fortschritt". Was sie schätzt am neuen Bahnhof? "Den Infopoint." Die jungen Leute seien pfiffig und hilfsbereit, haben ihr die genaue Verbindung ausgedruckt und vor allem: "Es ist wichtig, dass da auch noch ein Mensch ist bei all den Maschinen."
Am gegenüberliegenden Gleis schlendert eine junge Frau auf die Treppe zu. Dampf steigt aus dem Kaffeebecher auf, an dem sie sich die Finger wärmt. Die simple Erklärung für ihre auffallende Ruhe: "Ich habe verschlafen und kann jetzt sowieso nur noch den späteren Zug nach Frankfurt nehmen." Nicht nur an diesem kalten Wintermorgen vermisst sie mehr Sitzgelegenheiten: "Es gibt kaum Plätze. Wenn ich abends auf den Bus in die Heimstättensiedlung warten muss, gehe ich oft rüber in den Fürstenhof weil hier nichts warmes, gemütliches zum Warten ist." Alexandra Romanowski würde denn auch gerne "ein schönes Café" wo bis letztes Jahr McDonalds noch Burger über die Ladentheke geschoben hat.
Sie wird sich noch etwas gedulden müssen, denn derzeit gibt es "noch keine Auskunft über einen neuen gastronomischen Betreiber. Die Gespräche laufen noch", sagt Cornelia Rauchenberger von der Bahn AG. Auf die Frage, warum McDonalds den Standort aufgegeben hat, heißt es aus der Zentrale: "nicht mehr rentabel genug". Erstaunlich, immerhin war McDonalds seit 20 Jahren im Hauptbahnhof präsent. Doch die Konkurrenz ist größer geworden. In der Imbisszone reiht sich "Nordsee" an "Heberer". Hinter polierten Scheiben liegt die Massenware aus Croissants und Ciabattabrötchen mit Salatgarnitur. Längst heißt Kaffee auch am Darmstädter Hauptbahnhof Latte Macchiato, selbst wenn er auf Knopfdruck aus einem Brühautomaten deutschen Fabrikats fließt.
Ein Lichtblick im Einerlei genormter Waren ist die Saftbar, hinter deren Theke Snjezana Lukiç hervorblickt. Bei "Best 4" gibt es gepresste Säfte, im Winter auch aus Blutorangen, Quarkspeisen, aber auch erlesene Schokoladen und Trockenfrüchte. Allein, die Frischeoase liegt stiefmütterlich auf der Mitte des Querbahnsteigs, "wo die Leute aus der S-Bahn fast nie hinkommen". Doch Snjezana Lukiç jammert nicht. Am 2. Januar 2001, erinnert sie sich, war ihr erster Arbeitstag und seither verläuft ihr Alltag, zu dem der Rhythmus der Pendler genauso wie der Duft der Zitrusfrüchte gehört, nach festen Zeiten: "Morgens und nachmittags gegen 16 Uhr kommen die meisten Kunden."
Gegenüber dem hektischen Bahnhofsgeschehen scheint die Bahnhofsmission ein Raum ohne Zeit zu sein. Nicht der Uhrzeiger, sondern existenzielle Nöte wie Hunger, Kälte oder einfach das Bedürfnis nach Ansprache prägen dort den Alltag. Job verloren, Familie zerbrochen, auf der Straße gelandet - damit aus Obdachlosigkeit keine Endstation wird, ist Hiltrud Bürk da. Von ihren "Gästen" spricht die Ordensschwester und zeigt die Räume der Bahnhofsmission. Die sind schlicht, aber hell und freundlich. In der Küche gibt es belegte Brötchen und Tee. Früher, erzählt sie, gab es auch Suppe. Aber, so mutmaßt Schwester Bürk, "das Klientel ist beim Bahnhofsmanagement nicht erwünscht". Die Bahn zitiert auf Anfrage eine "in beiderseitigem Einverständnis getroffene Rahmenvereinbarung zwischen der Deutschen Bahn und den Trägern der Bahnhofsmissionen, nach der keine regelmäßige Verpflegung mit Speisen und Getränken erfolgt". Hiltrud Bürk tut, was sie kann für ihre Gäste. Verteilt Kleidung an das überwiegend männliche Publikum, hört zu. Es gibt wenig Kontinuität in ihrem Job. Einzelne sieht sie "relativ häufig, andere tauchen auf und wieder ab" sagt Bürk. Es sei schwierig: "Materielle Dinge kann ich geben, aber an der Situation selbst kann ich nicht viel ändern." Auffallend sei aber, dass in der letzten Zeit die Zahl der jüngeren Männer zugenommen habe, sagt sie. Wieder zurück in der Bahnhofshalle erscheint das klapp-klapp-klapp der Schritte gleich noch lauter, noch eiliger.