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30.06.2006

Quelle:Frankfurter Rundschau

Weiterstadt und die neue Einkaufswelt

Der ambivalente Kunde beklagt das Ladensterben, stellt sich aber selbst in den Stau und kauft im Gewerbegebiet ein

Von Ninette Krüger (Weiterstadt)
Wenn Henriette Schönig einkaufen geht, nimmt sie einen langen Weg auf sich. Einmal in der Woche läuft die 86-jährige Weiterstädterin gemeinsam mit ihren Freundinnen ins Gewerbegebiet. „Wir brauchen eine dreiviertel Stunde bis Segmüller, dort ruhen wir uns im Café aus, dann geht’s weiter zu Lidl“, erzählt die Rentnerin. Um zum Ziel und wieder nach Hause zu kommen, müssen die Seniorinnen mit ihren rollbaren Einkaufstaschen die viel befahrene Bundesstraße 42 kreuzen. Busfahren mögen sie nicht. „Da kommen wir mal an die frische Luft.“ Der Edeka-Markt am Stadtrand sei zwar nicht so weit, dafür aber viel zu teuer, und mehr Lebensmittellläden gebe es im Ort ja nicht, sagt sie.
Wer mit dem Auto zum Toom-Markt, Aldi, Lidl oder Segmüller will, steht meist im Stau. Auf den Parkplätzen herrscht geschäftiges Treiben. Familien, Paare, Mütter mit Kindern – alle kommen mit vollen Einkaufswagen aus den Zentren.
„Ich kenne viele, die gerne dort einkaufen, weil sie alles bekommen“, sagt Peter Klink vom Gewerbeverein. Auf einer Fläche von 42 000 Quadratmetern soll im Weiterstädter Gewerbegebiet bald ein weiteres riesige Einkaufszentrum mit rund 55 Geschäften entstehen.
Im Weiterstädter Ortskern herrscht unterdessen weiter Konsumflaute. Gerade hat das seit 50 Jahren ansässige Haushaltswarengeschäft Schuchmann an der Darmstädter Straße schließen müssen, weil es keinen Nachfolger gab, sagt Klink.
Im Stadtteil Schneppenhausen ist Einkaufen gar nicht mehr möglich. „Dort weiß niemand, wo er seine Fleischwurst kaufen soll, weil es keinen Metzger mehr gibt“, beschreibt der Vorsitzende des Seniorenbeirats, Günter Schuchmann, die Situation. Die Geschäfte hätten wegen zu schwacher Umsätze schließen müssen. Auf der Strecke blieben die älteren Bürger, denn sie fahren meist kein Auto. Der Beirat hat deshalb einen kostenlosen Bus initiiert, der zweimal die Woche die Kernstadt sowie die Stadtteile Schneppenhausen, Gräfenhausen, Braunshardt und Riedbahn abfährt und Senioren bequem zu den Kaufhäusern auf der grünen Wiese bringt. Der Bus, den die Stadt und der Möbel-Gigant Segmüller finanzieren, fährt sogar bis vor die Haustür. Auf Wunsch bringt der Fahrer auch noch die Wasserkästen in die Wohnung.
Mit ihrer „Geiz-ist-geil-Einstellung“ hätten die Bürger die Entwicklung in Richtung öde Innenstadt zum Teil selbst verursacht, sagt Günther Schuchmann. „Alle wollen nur noch billig einkaufen, keiner legt mehr Wert auf Qualität und Beratung“, kritisiert er.
Das sieht auch Walter Hamm vom Gewerbeverein Gräfenhausen so. Die Kunden verhielten sich ambivalent, wollten einerseits „um die Ecke“ einkaufen, würden dann aber doch nicht in die kleinen Geschäfte gehen, weil sie ihnen zu teuer seien.
Für Volker Winkler, Geschäftsführer des Edeka-Marktes in Weiterstadt, haben die Verbraucher durch ihr Kaufverhalten das Ladensterben provoziert. „Die Versorgung ist nur noch Lückenbüßer, hier kauft man die Butter ein, die man bei Kaufland vergessen hat.“ Einzelhändler, die keine riesige Verkaufsfläche samt Parkplatz zur Verfügung hätten, könnten heutzutage kaum noch einen Blumentopf gewinnen.
Und obwohl „alle meckern“, wie Winkler sagt, nimmt kaum jemand seinen günstigen Lebensmittel-Liefer-Service in Anspruch. „So schlecht kann es mit der Versorgung in Weiterstadt ja dann eigentlich nicht sein“, schlussfolgert er.
Auch Günter Schuchmann vom Seniorenbeirat wundert sich darüber, dass nur wenige den Einkaufsbus nutzen, obwohl gleichzeitig viele die schlechten Einkaufsmöglichkeiten beklagen. „Irgendwie komme die Leute anscheinend doch an ihre Waren.“
So wie Henriette Schönig: wenn sie mal schlecht zu Fuß ist, gehen ihre Kinder für sie einkaufen – im Gewerbegebiet natürlich.

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