Stadtentwicklung: Verkehrsforum legt Handlungskonzept vor – Pläne bis ins Jahr 2015 – Schlüssel Nordost-Umgehung
Warum sollte ein Stadtrat nicht auch mal Visionen haben? Zumal es sich in diesem besonderen Fall um einen Verkehrsdezernenten handelt: „Wir können mit der Nordost-Umgehung 2007 anfangen, dann wären wir 2011 fertig.“ Schweigen, erstaunte Gesichter.
Dieter Wenzel begleiten bei seinen Worten die skeptischen Blicke seiner Mitarbeiter in der Abteilung Verkehrsentwicklung. Jeder weiß: Über die für viele Innenstadtstraßen wichtige Umgehung wird seit Jahrzehnten geredet und geredet. Das auf 56 Millionen Euro geschätzte Projekt ist mittlerweile als Vorlage vom verkehrspolitischen Ausschuss des Bundestages zwar genehmigt worden – aber seinerzeit ohne die Tunnellösung an der Rosenhöhe für weitere rund zehn Millionen. Diese Umgehung aber ist „der Schlüssel“ (Wenzel) für alle anderen verkehrspolitischen Entscheidungen in Darmstadt.
Das seit drei Jahren auf breiter gesellschaftspolitischer Basis tagende „Forum Verkehrsentwicklung“ wird morgen, Freitag, in seiner öffentlichen Sitzung im Justus-Liebig-Haus (mehr dazu in der Infobox) die Weichenstellung des Verkehrs in Darmstadt bis ins Jahr 2015 vorstellen: Das „Handlungskonzept“ genannte Papier sieht folgende Punkte vor:
Fußgänger sollen sich nicht nur in der Innenstadt, sondern auch in den Wohnquartieren sicherer und bequemer als bisher bewegen können. Wege in die City zwischen den Quartieren erhalten „Qualitätsstandards“. Das bedeutet unter anderem: Das Parken auf Bürgersteigen wird grundsätzlich verboten, der Passant kann somit seinen oft zugestellten Gehweg zurückerobern. Und schließlich: Das Tempo der Autos wird „abschnittsweise“ gedrosselt.
Radfahrer dürfen auf einen weiteren Aufschwung ihrer Mobilität hoffen. Schon jetzt werden laut einer Untersuchung fast 15 Prozent aller Wege in Darmstadt mit dem Rad erledigt. Das bestehende Radnetz wird ausgebaut, verdichtet, mit Fußgängerbereichen und Tempo-30-Straßen kombiniert. In Hauptverkehrsstraßen wie Heidelberger Straße und Kasinostraße sollen die Wege sicherer werden. Das bedeutet eine bauliche Aufwertung des Radfahrens im Straßenverkehr.
Der Autofahrer steht sich angesichts hoher Zulassungs- und Pendlerzahlen auf den Straßen selbst im Weg und verursacht Dreck und Abgase. Das ist zu verbessern. Staus und Engpässe sollen verringert werden durch Straßenergänzung (Neubau) und Ausbau. Der Durchgangsverkehr hat nichts in der Innenstadt und in den Gewerbegebieten zu suchen.
Hier sind vor allem die Nordost-Umgehung, der Ausbau des Carl-Schenck-Rings sowie die Verlängerung der B-3-Umgehung Arheilgens nach Süden bis zur Eschollbrücker Straße gefordert. Für heute stark befahrene und zukünftig entlastete Straßen wie Rhönring, Landgraf-Georg-Straße, Cityring, Heidelberger Straße und Frankfurter Straße sollen „Spielräume zur Umgestaltung“ entstehen – „für ein verträgliches Miteinander der Verkehrsarten“. Wenzel spricht dabei zum Beispiel von einem Rückbau des Rhönrings. Die Ampelsteuerung wird optimiert, „aber eine grüne Welle wie in der Vorstellungswelt der sechziger Jahre“ (Wenzel) wird es nicht geben.
Sollte aber die Hügelstraße nicht gesperrt werden? „Nein, das ist ziemlicher Humbug“, schimpft Wenzel. Das werde nicht passieren, die Landskronstraße könne diese Sperrung schließlich nicht auffangen.
Wer fährt, der sucht auch irgendwann einen Parkplatz. Ein neues Parkraumkonzept soll vor allem die Bereiche rund um die Innenstadt abdecken – denn dort ist die Not am größten. In Wohnquartieren wie Johannesviertel, Martinsviertel und in Teilen von Bessungen wird „Bewohnerparken“ eingeführt – das bedeutet nichts anderes als die Aufteilung des knappen Parkraums für berechtigte Anwohner. In der Innenstadt soll ein Leitsystem bei der Suche helfen und je nach Entfernung zur Innenstadt eine Kostenstaffelung bei den Parkgebühren greifen. Ziel: Auslastung der Parkgaragen verteilen und bestehende Kapazitäten nutzen.
Der Handel ist der Puls für Darmstadt. Dazu gehören Fahrten von Handwerkern zu Kunden, Kurierdienste oder Fahrten zu Geschäftsterminen – in der Regel mit dem Pkw. Dieser Wirtschaftsverkehr werde im Zuge aller bisher genannten Konzeptpunkte schneller rollen. Für den Güterverkehr sollen bestehende Gleisanschlüsse „gesichert und reaktiviert“ werden. Wenzel sagte aber auch, dass ein dezentrales Gleis-Verteilzentrum wohl keine Zukunft habe. Es gebe zwar einerseits Gespräche mit der Bahn, aber andererseits „haben die großen Händler keinen Bedarf, und für die kleinen ist ein solches System zu teuer“. Für die Innenstadt setzt das Konzept eher auf die „verstärkte Einrichtung von Ladehöfen und Ladezonen“. Auch die Ausweitung unterirdischer Lieferungen (Wilhelminentunnel, Schlossgarage) gehört dazu.
Der ÖPNV wird vorangetrieben – mit einer neuen Straßenbahn bis nach Weiterstadt, mit der Reaktivierung der Straßenbahn zum Ostbahnhof, der Verlängerung nach Wixhausen. Die Telekom mit rund 8000 Arbeitsplätzen in der Endausbaustufe, die Gesellschaft für Schwerionenforschung mit einer neuen Beschleunigeranlage und vielen hundert neuen wissenschaftlichen Arbeitsplätzen sowie Merck – sie alle sollen noch besser mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen sein.
Nach all den Konzepten, weiß auch Norbert Stoll vom Straßenverkehrsamt, muss irgendwann „Butter bei die Fische“. Das nennt man Feinmaßnahmen. Doch ob dann noch Rot-Grün im Rathaus regiert, wird die Kommunalwahl im März 2006 zeigen. Bis dahin geht’s dennoch voran: Die Straßenbahntrasse in Arheilgen wird doppelspurig ausgebaut (mehr auf Seite 15) und die Haltestelle Schloss an den Marktplatz verlegt.
Auch das waren – irgendwann – nur Visionen. Warum also sollte ein Stadtrat nicht auch an die Nordost-Umgehung glauben?